Mohammed ist ja auch mein Prophet
Als junge Frau flirtete Elham Manea mit dem radikalen Islam. Nun warnt die streitbare Politologin vor den Fundamentalisten. Auch in der Schweiz.
Elham Manea ist außer Atem. Im Moment komme einfach alles zusammen, sagt sie. Die Prüfungen ihrer Studenten, Podiumsdiskussionen, Interviews. Sie setzt sich, bestellt einen Cappuccino, hier in diesem kleinen Café in Oerlikon. Und kommt ohne Umschweife zum Punkt: "Ja", sagt sie, "es gibt in der Schweiz Anzeichen einer zunehmenden Islamisierung. Ich sehe zwar noch keinen Grund, um Alarm zu schlagen; doch es gilt, diese Anzeichen ernst zu nehmen."
Die Frau, die dies sagt, will keinen Hass schüren, und Populismus liegt ihr fern. Wie könnte sie auch, schließlich ist Elham Manea, 49, selber Muslimin. Und wenn sie über Radikalisierung spricht, dann spricht sie auch über sich selbst und ihre Geschichte – doch dazu später.
Die schweizerisch-jemenitische Doppelbürgerin ist Privatdozentin für Politikwissenschaften an der Universität Zürich, Autorin, Aktivistin – und gilt als eine der profiliertesten Stimmen im Kampf gegen den islamischen Fundamentalismus. In Ägypten als jemenitische Diplomatentochter geboren, in Marokko, Deutschland, im Iran und im Jemen aufgewachsen, hat sie in Kuwait und Washington D. C. studiert. Elham Manea ist eine Frau von Welt.
Wie also kommt es, dass eine wie sie "Zeichen einer zunehmenden Islamisierung" wahrnimmt? Und vor allem: Was ist dagegen zu tun?
Elham Manea erzählt. Von den Jugendlichen aus Winterthur, die für Schlagzeilen sorgten, weil sie nach Syrien reisten, um sich dem "Islamischen Staat" anzuschließen. Oder von den Anrufen, die Manea von besorgten Lehrern bekommt. Von Lehrern also, die ihr von Schülern berichten, von Secondos oder Terzos, gut Integrierten also, die sich plötzlich seltsam verhalten. Jugendliche, die sich bis anhin als Kosovaren, Bosnier oder Türken verstanden haben und sich dann, von einem Tag auf den andern, als Muslime definieren. Die erst noch engagiert am Zeichenunterricht teilgenommen haben und sich dann weigerten, einen Pinsel in die Hand zu nehmen – mit der Begründung, dies sei im Islam verboten. Mehr noch: Sie sprechen vom Krieg des Westens gegen den Islam und sehen sich selber als die "ewigen Opfer". "All dies", sagt Manea, "ist typisch für den narrativen Kontext islamistischer Bewegungen und gehört zum Muster von Radikalisierungsprozessen." Es zielt darauf ab, das Sozialverhalten des Einzelnen so zu verändern, dass er sich von seinem früheren Umfeld entfremdet. "In dieser Hinsicht funktionieren islamistische Bewegungen wie Sekten", sagt die Politologin.
Elham Manea weiß zu gut, wovon sie spricht. Nach einigem Zögern erzählt sie, was sie noch nie zuvor öffentlich gesagt hat. Sie geriet selbst einmal in den Bann der Extremisten.
Mit 16, am Gymnasium in Sanaa, war sie von einer religiösen Gruppe fasziniert. Deren Predigerin, eine charismatische junge Frau, sprach von der Liebe Gottes und der Erhabenheit der Menschen, die sich dem wahren Islam hingeben. Botschaften, die bei Elham Manea ankamen. Sie war damals, wie so viele in diesem Alter, auf der Suche nach sich selbst. "Ich fühlte eine Klarheit und Geborgenheit, wie ich sie noch nie erlebt habe", erinnert sie sich. "Alles wurde auf einmal logisch: die Politik, mein Verhältnis zu meinen Eltern, mein Alltag."
Elham Manea verschleierte sich. Und als ihr Vater sie vor den Fundamentalisten warnte, begann sie sich von ihm zu entfernen. Stutzig wurde die junge Frau erst, als sie erfuhr, dass es okay sei, im Namen der Religion zu töten. Und dass Engel des Propheten eine Frau verflucht haben sollen, weil diese trotz des Verbots ihres Ehemannes das Haus verließ, um nach ihrem kranken Vater zu sehen. Das fand sie absurd, abstoßend. Das rüttelte sie wach. Es war das Ende ihres "kurzen Flirts mit dem Islamismus".
Wenn sie die Geschichte heute erzählt, dann, um zu zeigen, wie verführerisch die islamistische Botschaft sein kann. Selbst für eine Frau wie sie, die früh gelernt hat, kritisch zu denken. Vor allem von ihrem Vater, einem Philosophen und Freigeist, der sich sogar dem Druck seiner Familie widersetzte, sein Mädchen zu verschleiern, weil er fand, die Verhüllung würde sie erst recht auf ihre Sexualität reduzieren.
Es braucht eine grundlegende Reform des Islams
Also warnt sie vor radikalen Predigern in Moscheen. Also nimmt sie die Schulen und die Medien in die Pflicht. Aufklären, aufklären, aufklären. Vor allem aber knöpft sie sich die islamischen Vereinigungen vor. Sie müssten sich endlich kritisch mit der eigenen Religion auseinandersetzen. Denn der militante Islamismus, sagt Manea, nähre sich immer aus seinen gewaltlosen Ablegern. "Am Ende einer Radikalisierung steht Gewalt. Das ist die Charakteristik einer totalitären Ideologie." Solange Muslime reflexartig jegliche Verbindung zwischen den Extremisten und den Lehren des Islams verneinten, könne es keine Fortschritte geben.
Sie schaut über den kleinen Cafétisch, fokussiert das Gegenüber und sagt: "Es braucht eine grundlegende Reform des Islams." Die Trennung von Staat und Justiz von der Religion. Die Gleichstellung von Mann und Frau – und die Anerkennung universaler Menschenrechte.
Sie selber besucht nur Moscheen, in denen Frauen und Männer miteinander beten dürfen. Mit dieser Haltung leitete sie im Haus der Religionen in Bern ein islamisches Gebet; sie, als Frau, das Haar unbedeckt. Etwas, was für die meisten gläubigen Muslime undenkbar ist. Sie mischt sich ein, wenn Schweizer Professoren vorschlagen, Scharia-Gerichte für hierzulande lebende Muslime anzuerkennen: "Die Scharia leistet Ungleichbehandlungen von Frauen Vorschub und legitimiert, je nach Interpretation, noch heute Kinderheiraten und Zwangsehen." Sie ärgert sich gewaltig, wenn eine von Justizministerin Simonetta Sommaruga beauftragte Expertengruppe damit liebäugelte, die Polygamie zu legalisieren. Wer so denkt, der ignoriere "die patriarchalen Strukturen der Polygamie und verniedliche die Demütigungen und den Schmerz der Frauen, die gezwungen sind, in polygamen Ehen zu leben". Und Elham Manea will, dass nur Volljährige in der Schule ein Kopftuch tragen dürfen: "Die Schule muss ein neutraler Raum sein, in dem sich Kinder frei entfalten können."
Die Weitgereiste bezeichnet sich selber als "Weltbürgerin". Dreh- und Angelpunkt ihres Lebens ist aber Bern. Hier lebt sie mit Mann und Tochter, hier geht sie walken, zur Nachbarin zum Yoga, in die Gartenbeiz auf ein Glas Wein. Wer Elham Manea in ihrer Wohnung besucht, tritt in einen Haushalt, so schnörkellos wie die Hausherrin selbst. Außer dem Modell eines jemenitischen Altstadthauses über dem Fernseher und der Jambia, dem traditionellen jemenitischen Krummdolch ihres Vaters, deutet kaum etwas auf ihre arabische Herkunft hin.
Dennoch ist die Wohnung ein kosmopolitischer Hotspot: Hier bloggt sie, hier schreibt sie ihre wissenschaftlichen Artikel. Rauft sich im virtuellen Raum, auf Facebook und Twitter, mit ihren Gegnern. Und hier laufen die Fäden der internationalen Solidaritätskampagnen für den saudischen Blogger Raif Badawi zusammen, der zu tausend Stockhieben und zehn Jahren Haft verurteilt wurde. Vor gut einem Jahr wurde Elham Manea von seiner Familie kontaktiert, die in Kanada Asyl erhalten hat, und gebeten, sich für Raifs Freilassung einzusetzen. Seither ist sie seine Sprecherin, fast täglich gibt sie Interviews für Bild, BBC oder Al-Arabija. Ihr Engagement für diesen jungen Mann, dem sie noch nie persönlich begegnet ist, ist längst zum Sinnbild ihrer Arbeit geworden: "Raif ist ein Symbol für die Millionen von Frauen und Männern, die ihr Leben riskieren, um jene Rechte zu erlangen, die für uns in der Schweiz selbstverständlich sind."
Selbst wenn sich Elham Manea in Rage redet, bleibt sie wohltuend geerdet, ja bodenständig, und strahlt eine angenehme Ruhe aus. So etwa, wenn sie erzählt, wie sie diesen Januar, nach dem Attentat auf die Redaktion von Charlie Hebdo, Mohammed-Karikaturen in den sozialen Medien teilte, um für die Meinungsfreiheit ein Zeichen zu setzen. Wenn sie von den Reaktionen berichtet, die danach über sie hereinbrachen; Applaus, vor allem aber Hass und Unverständnis. "Ich versuche dann immer, mich in die Haut des anderen zu versetzen und gleichzeitig meine Position klarzumachen", sagt Manea. Als man sie gar mit dem Tod bedrohte, antwortet sie: "Ich kann verstehen, warum ihr wütend seid. Mohammed ist ja auch mein Prophet. Aber verteidigen wir den Propheten, indem wir in seinem Namen töten? Beschmutzen wir ihn dadurch nicht erst recht?"
"Mohammed ist ja auch mein Prophet", Von Helene Aecherli, 22. Mai 2015 DIE ZEIT Nr. 21/2015, 21. Mai 2015
http://www.zeit.de/2015/21/politologin-elham-manea-islamismus